„Ich habe den Orden immer als fair erlebt“

Lieber Interessent,

10 Jahre lang war ich Jesuit – von meinem 25. bis 35. Lebensjahr. Ich bin damals mit Begeisterung und Überzeugung eingetreten und 10 Jahre später ohne Enttäuschung und mit Überzeugung ausgetreten.Ich stand kurz vor der Diakonweihe, als mir immer klarer wurde, dass das Ordensleben mit den drei Gelübden nicht mein finaler Lebensweg sein würde. Bereits damals, bei meinem Austritt, als auch jetzt, genau 9 Jahre später, bereue ich keines meiner Jahre im Orden. Wenn ich von anderen gefragt werde, sage ich immer: „Es war eine richtig coole Zeit, voller Abenteuer und intensiver Selbsterfahrung.“ Von Gott rede ich in meinem jetzigen Arbeitsumfeld weniger, aber natürlich – es war auch eine intensive Zeit der Gotteserfahrungen und auch der gefühlten Gottesferne. Ordensleben ist kein Hochgefühlstrip – so wenig wie Kinder zu haben nur glücklich macht (da kann ich dir von zahlreichen schlaflosen Nächten berichten…).

Doch zurück zu den Jesuiten. Wie habe ich den „Laden“ erlebt? Ehrlich gesagt, ich persönlich hätte in keinen anderen eintreten wollen. Mich hat immer diese Verbindung von intellektuellem Anspruch und tiefer spiritueller Lebensweisheit fasziniert – und meiner Meinung nach ist das bis heute der Unique Selling Point der Jesuiten und ihr großes Charisma. Manche mögen die intellektuellen Gespräche beim Frühstück genervt haben, ich fand sie immer sehr anregend. Manche mögen die lange Ausbildungszeit und zahlreichen Studien und Praktika aufreibend erlebt haben, rückblickend haben sie mir viele meiner Talente, die ich bis heute im Arbeitsleben nutze, erst offenbart. In gewisser Weise ist das das Ausbildungsmodell, auf das dich einlassen wirst – falls du eintrittst: „Probiere mal das aus – und das – und das – und das – und dann schau hinterher mal, wie es dir damit geht.“ Bis heute finde ich das großartig.

Suchst du das Gefühl von familienartiger Gemeinschaft oder intensiver „Bruderschaft“? Dann bist du bei den Jesuiten sicher falsch. Natürlich gibt es Freundschaften und in den Kommunitäten lebt man freundlich und gut miteinander – aber die Jesuiten sind – recht allgemein gesprochen und natürlich im Einzelfall immer anders… – eher Einzelgänger und Einzelkämpfer.

Übrigens, – und das ist jetzt ein wichtiges Detail – ich habe den Orden immer als fair erlebt. Sowohl in der Eintritts- und Ausbildungszeit als auch in meiner Austrittsphase. In meiner finalen Klärungsphase hat mir der Orden alle nötige Zeit und alle nötige Beratung ermöglicht, um die Frage meiner Berufung im Orden persönlich und geistlich zu klären. Das Signal des Ordens war immer: „Wie immer du dich entscheiden wirst, egal ob du bleibst oder aufbrichst, wenn du es klar bekommst, dann wird es das Beste für dich, aber auch für den Orden sein.“ Und als der Austritt für mich feststand, hat der Orden mir den Übergang leicht gemacht.

Schließlich, noch ein letzter Gedanke: Die Jesuiten sind professionell aufgestellt. Sie mögen nicht den charismatischen Charme eines jungen Start-ups haben und sind vielleicht auch nicht die schnellsten und innovativsten am Markt, dafür sind die Prozesse und Strukturen im Hintergrund zuverlässig und professionell aufgestellt. In Jahrhunderten lernt man so einiges…
Soll ich dir also empfehlen einzutreten oder es nicht zu tun? Natürlich werde ich dir weder das eine noch das andere raten. Doch ich lege dir diesen Spruch von Ignatius an Herz: „Wenige Menschen ahnen, was Gott aus Ihnen machen würde, wenn Sie sich nur seiner Führung überließen“.

Du siehst im Herzen bin ich Ignatianer geblieben. Ich wünsche dir gute Entscheidungen!

 

Johannes

(verheiratet, 2 Kinder, arbeitet in einem großen Industrieunternehmen)

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